Für den roten Faden fasse ich mal das bisher Gesagte zusammen:
Brainstorming-mäßig werfe ich mal alles auf den Tisch:
Meine Ausgangsfrage ist, ob es auf der Leitung reale Leistungsflüsse in hin- und Rückrichtung gibt oder ob das nur "virtuelle" (ich verwende hier bewußt das Wort "virtuell" und nicht "blind" weil man Blindleistungen ja eine spezielle fest definierte Bedeutung haben (man kann sie zum Beispiel wirklich messen)) Rechengrößen sind.
Unbestritten ist, daß auf dem Leiter im allgemeinen Fall Wellen hin und zurück laufen - mit den ganzen Effekten der stehenden Wellen, Leitungsaufladung etc. Meine Argumentation ist so, daß diese unbestrittenen Effekte nicht in Frage gestellt werden. (Jedenfalls ist das meine Absicht.
)
Sollte es Experimente geben, die zwischen den beiden Modellen unterscheiden können, dann wäre die Sache natürlich klar. Ein Experiment hat immer Recht. Ich kenn im Moment nur keins, daher die Gedankenexperimente ...
Modell 1:
Nemen wir an es handelt sich um real existierende Größen. Dann ist jedem dieser Leistungsflüsse ein _realer_ Energiestrom zuzuordnen und der Energieerhaltungssatz greift in seiner vollen Härte. Nochmal in voller Deutlichkeit: In diesem Bild müssen Energieströme existieren, die die Leitung jeweils der vollen Länge nach durchqueren. Wir haben es also mit bewegten Energiepaketen zu tun. Diese kann man im "Klötzchenmodell" verfolgen und muß zu jedem Zeitpunkt sagen können warum sie sich gerade so verhalten oder warum sie sich in eine andere Energieform umwandeln. (und auch eine Richtungsänderung ist eine Umwandlung der Energieform!)
Modell 2:
Die Altertative ist, anzunehmen, daß diesen hin- und rücklaufenden Wellen erstmal kein eigenständiger Energiefluß zuzuordnen ist und ein Energietransport nur über die sich ergebende resultierende Welle erfolgt. (Ohren zuhalt wegen der Aufschreie - aber lest bitte erstmal weiter. Gedankenexperimente müssen ja erstmal erlaubt sein. Ich hoffe also weiterhin auf eine angenehme Diskussionskultur.)
Mit diesem Modell umgeht man das Problem der rücklaufenden Energie und damit das Problem erklären zu müssen wo dieser Energiefluß am Leitungseingang bleibt. Allerdings wird es mit diesem Modell dann schwieriger zu erklären wie ein Richtkoppler funktioniert.
Wir nehmen also erst einmal als Modell 1 als gegeben an, nämlich daß auf einer HF-Leitung zwei Energieströme existieren. Ein hinlaufender und ein rücklaufender.
Betrachten wir dazu den Beispielfall eines an die Leitung angepaßten Generators, der eine kurzgeschlossene Lambda/4-Leitung treibt.
Jetzt existieren zwei Behauptungen:
Behauptung 1:
Die in der Leitung rücklaufende Energie läuft in den Sender zurück
-> Rothammel (aktuelle Auflage, 5.8.1 - Grundlagen, S. 116)
In dieser These muß der rücklaufende Energiestrom am Leitungseingang nicht umkehren und der Energieerhaltungssatz ist erstmal erfüllt. Allerdings ist der Prozeß im Sender, der die Energie dann letztendlich wieder zurück schickt nicht weiter beschrieben.
Des weiteren zeigt obiges Beispiel, daß es durchaus Fälle gibt in denen definitiv keine Energie in den Generator zurück fließt. Damit ist gezeigt, daß diese Behauptung (in dieser Allgmeinheit) falsch ist (aber nicht, daß Behauptung 2 _immer_ wahr ist).
Behauptung 2:
Es läuft unter keinen Umständen Energie aus der rücklaufenden Welle zurück in den Sender
-> Das ist z.B. die hier im Forum vertretene These.
Bei dieser Betrachtungsweise muß aber der rücklaufende Energiestrom zu 100% am Leitungseingang umkehren, denn in Luft auflösen kann er sich ja nicht.
Dann aber muß ein physikalischer Prozeß existieren, der genau das und dann auch noch genau an dieser Stelle und nicht irgendwo sonst auf der Leitung, bewirkt.
Mir fehlt aber eine Idee, mit welchem physikalischen Prozeß man das erklären könnte.
Andere Betrachtung dieser Versuchsanordnung:
Gibt man in dieser Versuchsanordnung einen Impuls auf die Leitung, dann kann man sehen, daß sich dieser die Leitung entlang fortpflanzt, am Ende reflektiert wird und wieder zum Sender zurück kehrt.
Das legt erstmal nahe, daß auch im kontinuierlichen Fall eine Welle hin- und wieder zurück läuft.
In dieser Konfiguration wird interessanterweise von niemandem bezweifelt, daß der Impuls, der ja einen gewissen Energieinhalt hat, zurück in den Sender geht und dort im Innenwiderstand in Wärme umgesetzt wird. Eine re-reflexion in Richtung Leitungsende findet wegen der Anpassung am Generatoreingang ja nicht statt. (Ulrich, Du hattest ja befürchtet, daß dieser Fall in der nächsten CQ/DL dran kommen wird - ich bring ihn hier trotzdem.
)
Damit müßte die Leitung nach dem Abschalten des Senders auch in Richtung des Senders leer laufen (im Sinne von die in ihr gespeicherte Energie abgeben). Die letzte Welle auf der Leitung ist also die rücklaufende Welle (und mit ihr der rücklaufende Energiestrom).
Im kontinuierlichen Fall, also wenn der Sender sein periodisches Signal sendet und die Leitung eingeschwungen ist, soll nun auf einmal keine Energie mehr in den Sender zurück laufen (und tut es mindestens in einigen Spezialfällen auch nicht).
Im Modell 1 haben wir (im allgemeinen Fall) auf der Leitung hin- und rücklaufende Energien und im Sender nur hinlaufende Energien.
Damit die Energiebilanz stimmt, muß dann der rücklaufende Energiestrom am Leitungseingang umkehren, auch wenn wegen der Anpassung eigentlich keine Reflexion auftreten sollte.
In dem von mir konstruierten Beispiel ist (vorbehaltlich der Verifikation durch eine Messung) allerdings sicher, daß keine Energie in den Sender zurück fließt.
Es muß also ein physikalischer Prozeß am Leitungseingang ablaufen, der den rücklaufenden Energiestrom genau an diesem Punkt reflektiert.
Dieser ist offensichtlich eng verknüpft mit dem hinlaufenden Signal, denn fällt dieses weg, erreicht der rücklaufende Energiestrom wieder den Innenwiderstand und wird dort in Wärme umgewandelt.
Aber was kann dies für ein Prozeß sein und wieso wirkt er nur genau an dieser Stelle?
Betrachten wir also mal Modell 2 und schauen wohin uns das bringt:
Im Einschwingfall haben wir eine hinlaufende Welle. Diese transportiert Energie in die Leitung und lädt sie auf. Diese Energie ist im Feld der hinlaufenden Welle gespeichert.
In Phase 2, wenn die hinlaufende Welle reflektiert wurde, aber die rücklaufende Welle noch nicht den Eingang wieder erreicht hat, transportiert die hinlaufende Welle weitherhin Energie in die Leitung. Im Bereich der stehenden Welle wird allerdings keine Energie mehr transportiert. Die hinlaufende Energie fließt also am der Grenzfläche zwischen hin- und rücklaufender Welle in das Feld der stehenden Welle und wird dort gespeichert.
Im stationären Fall fließt jetzt keine Energie mehr auf der Leitung (weder hin noch zurück), obwohl es weiterhin hin- und rücklaufende Wellen gibt.
Die Verhältnisse am Leitungseingang kann man sich dann mit der Analogie einer gasgefüllten Leitung verdeutlichen. Im Einschwingvorgang fließt Gas in die Leitung. Über die Druckerhöhung speichert die Leitung Energie. Im stationären Fall ist Energie in der Leitung gespeichert, es gibt aber keine Energieströme in und aus der Leitung. Der Gegendruck den die Leitung erzeugt, bewirkt daß am Leitungseingang keine Energie in die Leitung fließt und umgekehrt der Druck des Gases auf der anderen Seite bewirkt, daß die gespeicherte Energie in der Leitung konstant bleibt.
Auch der AUsschwingfall ließe sich mit dieser Analogie beschreiben. Fällt der Gegendruck weg, dann entleert sich die Energie in den Generator und die Leitung läuft leer.
Betrachten wir nun der Vollständigkeit halber noch den Ausschwingfall:
Die hinlaufende Welle hört nun auf. Es gibt nun einen - vom Leitungseinang fortschreitenden Bereich - in dem nur noch eine rücklaufende Welle existiert. Diese transportiert nun wieder Energie - und zwar in Richtung Leitungseingang. Die Energie entnimmt sie dem Feld der stenden Welle - und zwar an der genannten Grenzfläche. In Phase 2 des leer laufens kommt der Energiestrom dann aus dem Feld der rücklaufenden Welle das sich dadurch dann abbaut.
Modell 2 erscheint mir bisher mit allen hier erwähnten Effekten verträglich.
Nur die Richtkoppler wären dann zwar schwerer zu erklären, aber in der Physik gilt ja auch, daß jede Messung die Ausgangssituation stört. Insofern könnte das Vorhandensein des Richtkopplers zur Störung des Ausgangszustandes führen und erst diese Störung bewirkt die Separation der Wellen und damit die Ausprägung der Energieströme an den Toren des Richtkoplers. Aber ich bin noch weit entfernt Richkoppler auf der dazu notwendigen Ebene zu verstehen. Nur wer hier ein Gegenargument wittert, möge bitte mit entsprechenden Beispielen kommen.